Der Vorwärtspass

Nein, Notre Dame hat den Vorwärtspass nicht erfunden. Aber für seinen Durchbruch gesorgt. Inzwischen ist der Pass eine seit vielen Jahrzehnten eingespielte Routine und aus dem Football nicht mehr wegzudenken. Wenn die Passempfänger ihre Routen laufen, die Cornerbacks auf die Lauer gehen und der Quarterback sich rückwärts von der Line of Scrimmage weg bewegt, dann weiß man, dass es in den nächsten Sekunden höchstwahrscheinlich zu einem Pass kommt. Genauer gesagt: zu einem Vorwärtspass. Klar, manchmal wird ein Pass nur angetäuscht, aber der wohl sichtbarste Unterschied zum Rugby liegt beim Football in der Eigenart des Spiels, dass Raumgewinn hauptsächlich durch vorwärts gerichtete Pässe beziehungsweise Läufe erzielt wird. Der Ende des 19. Jahrhunderts auch im Football noch weit verbreitete Lateral Pass nach hinten gehört heute in die Kategorie der Besonderheiten.

Im Allgemeinen gilt der Pass, den Walter Camp 1886 beim Spiel Yales gegen Princeton geworfen hat, als der erste Vorwärtspass aller Zeiten. Damals war dies zwar verboten, wurde aber in dem Fall von den Schiedsrichtern als gültiger Pass anerkannt. 1906 wurde das vorwärts gerichtete Passspiel offiziell zugelassen, blieb aber noch lange die Ausnahme von der Regel. Unter den Coaches war die Ansicht verbreitet, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit des Laufspiels viel höher war als beim mit dem größeren Risiko des Ballverlustes verbundenen Passspiel. Zudem galt Passspiel auch ein Stück weit als unmoralisch. Der angreifenden Mannschaft wurde unterstellt, mit einem Pass dem Kampf Mann gegen Mann ausweichen zu wollen.

Die Quellen wollen wissen, dass der erste legale Vorwärtspass 1906 von Bradbury Robinson geworfen wurde. Er stammte von der katholisch geprägten Saint Louis University und passte während eines Spieles gegen das Carroll College über 20 Yards auf Jack Schneider. Die Anweisung hierfür gab seinerzeit Head Coach Eddie Cochems, der mit seinem Team in diesem Jahr elf Siege einheimste und keine Niederlage erlitt. Notre Dames späterem Head Coach und Spieler Knute Rockne war es dann aber überlassen, das zunächst nur verhalten angewandte Passspiel zu einer Passion weiterzuentwickeln.

Im Juni und Juli 1913 war Rockne als "Baywatch Lifeguard" angestellt und übte im Auftrag von Head Coach Jesse Harper mit seinem Teamkollegen Gus Dorais am Strand von Cedar Place am Lake of Erie mit einem Football ein paar Würfe. Auch wenn es über 100 Jahre her ist, jungen Menschen am Strand stand auch damals schon der Sinn nach dem, was sich im Klischee auch heute noch mit dem Bild des muskelbepackten Baywatch-Rettungsschwimmers verbindet: Rockne wollte einer gewissen Miss Bonnie Skiles aus Sandusky (Ohio) imponieren und konzentrierte sich bei seinen Football-Übungen auch deswegen auf besonders lange bis dahin ungewohnte Würfe. Bonnie muss es gefallen haben, schließlich wurde sie später die Ehefrau von Rockne.

Was aber war nun das revolutionäre Neue? Rockne und Dorais waren die ersten Spieler, die einstudierten, den Ball unter maximal gelaufener Geschwindigkeit zu fangen, ohne vor dem Fang abzustoppen und sich nach ihm umzudrehen. Sie übten solche Pässe von jeder erdenklichen Position eines fiktiven Feldes zu jedem theoretischen Punkt und berechneten die Flugbahn und die notwendige Zeit, um am "Spot of Catch" zur rechten Zeit anzukommen. So entstanden die ersten Varianten von Passspiel, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Zu Beginn des neuen Semesters 1913 präsentierten die Sportler dem Head Coach ihre Ergebnisse, und er nahm diese auch in sein Playbook mit auf. Die Ergebnisse dieser Saison konnten sich sehen lassen, Notre Dame wurde erstmals in einem Atemzug mit den bedeutenden Teams dieser Zeit erwähnt, nachdem der große Coup gegen den haushohen Favoriten Army gelang.

Der 1. November 1913 gilt als der Tag, der die Football-Landschaft in den USA für alle Zeiten verändern sollte. Es war der Tag, als Army und Notre Dame sich erstmals in West Point gegenüberstanden und der Underdog aus South Bend den Kadetten eine Lektion mit der Anwendung seiner technischen Neuerung erteilte. Damals galten Army, Harvard und Penn State als die großen College-Spitzenteams der Nation. Erst 1913 war die Möglichkeit in die Regeln aufgenommen worden, dass der Ball bei einem Pass über 20 Yards geworfen werden durfte. Head Coach Jesse Harper hatte die Zeit genutzt, den Vorwärtspass als eine effiziente Angriffswaffe in die eigenen Pläne zu integrieren, ohne von neugierigen Scouts beobachtet zu werden.



Der Text stammt aus dem Buch "Mythos Notre Dame" von Jörg Schlüter - 196 Seiten - 24,90 Euro.

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