West Coast Offense

Wohl kaum ein Footballbegriff aus dem Taktikbereich war und ist so populär wie das Schlagwort "West Coast Offense". Dabei verbindet jeder Fan und Experte etwas anderes mit diesem Begriff. Einig sind sich die Fachleute aber immerhin, dass der inzwischen verstorbene Bill Walsh, als Head Coach der San Francisco 49ers zu Ruhm gelangt, die innovative Kraft hinter dieser "Offense" war. Dabei handelt es sich nicht um ein Angriffssystem im herkömmlichen Sinne. Vielmehr ist es eine Summe von Philosophien und Ansichten, die erst im Gesamtpaket diese komplexe Strategie ausmachen.

"Wenn ich an die West Coast Offense denke, kommen mir keine bestimmten Spielzüge oder Formationen in den Sinn. Ich denke dabei an die allumfassende Methodik, die Bill Walsh nutzte, um eine neuartige Footballstruktur zu kreieren", hatte Brian Billick, zuletzt Head Coach der Baltimore Ravens, in seinem Buch "Developing An Offensive Game Plan", die Arbeit von Bill Walsh beschrieben. Tatsächlich war es eine fanatische Genauigkeit bei den kleinsten Dingen, mit der Bill Walsh seine Assistenten und Spieler zur gewünschten Perfektion trieb. Oder in den Wahnsinn...

Aber der Erfolg des Perfektionisten Bill Walsh spricht für sich. Er gewann mit den San Francisco 49ers drei Super Bowls und formte damit das erfolgreichste Team der 80er Jahre. Kein Team gewann in diesem Jahrzehnt mehr Spiele (104) als San Francisco. Viele seiner ehemaligen Assistenten und Spieler sind heute als Head Coaches oder Assistenten tätig und haben seine Ansichten überall in der NFL verbreitet. Teams in der NFL und im College benutzen Varianten der "West Coast Offense". Sie haben seine Philosophien und Lehren angenommen und werden sie an eine neue Generation von Coaches weitergeben. So hat Walsh mit seinen Ideen das Gesicht des Footballs für immer verändert.

Die "West Coast Offense" ist also kein neues Angriffssystem im herkömmlichen Sinne. Da aber jeder Footballfan ständig mit diesem Begriff konfrontiert wird, werden wir die wesentlichen Philosophien von Bill Walsh, die zur "West Coast Offense" geführt haben, zusammenfassen und erläutern. Wobei der Begriff "West Coast Offense" vehement von Walsh abgelehnt wurde. "Nennen sie es Walsh Offense oder Cincinnati Offense, aber nicht die "West Coast Offense". Diese ist etwas völlig anderes", soll er einmal einem Interviewer gesagt haben. Dokumentiert ist seine Aussage in einem Interview aus dem Jahr 1999 gegenüber der Zeitschrift "Sports Illustrated": "Dieser Begriff impliziert, dass diese Offense irgendwo an der Westküste erdacht wurde. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Es begann in Ohio, als ich zwischen 1968 und 1975 Assistent von Paul Brown in Cincinnati war. Erst später nahm ich diese Offense mit nach San Diego, Stanford und danach zu den 49ers." Tatsächlich ist die "wahre West Coast Offense" etwa 20 Jahre älter als die von Bill Walsh kreierte Offense. Doch dazu mehr in einem anderen Kapitel.

Die Idee zur "Cincinnati Offense" ist Bill Walsh nach eigenen Angaben Ende der 60er Jahre gekommen. Er arbeitete als Assistent bei den Cincinnati Bengals, einem damals noch frischen "Expansion Team", unter dem legendären Paul Brown, ebenfalls als Perfektionist bekannt und gefürchtet. Walsh selbst hat den Einfluss von Brown und auch von Sid Gillman, ehemaliger Head Coach der Los Angeles Rams, der San Diego Chargers und der Houston Oilers, nie bestritten. Diese beiden haben Walsh geprägt, obwohl er nie unter Gillman tätig war. Gillman gebührt die Ehre, den Pass als Angriffsvariante in der NFL und später auch in der neu gegründeten AFL salonfähig gemacht zu haben. Er erwarb sich durch seine damals revolutionären Ideen zum Passspiel den inoffiziellen Titel als "The Best Passing Coach" aller Zeiten.

Al Davis erlernte das Passspiel unter Gillman als dessen Assistent bei den San Diego Chargers. Als er 1966 zu den Oakland Raiders wechselte, verpflichtete er den damals 35-jährigen Bill Walsh von der Universität Stanford und machte ihn mit Gillmans Theorien bekannt. 1968 wechselte Walsh nach Cincinnati. Gillmans Ideen nahm er mit. Auch Brown galt damals als innovativer Coach, der es verstand, neue Ideen im Football mit Erfolg durchzusetzen. Er war der erste Coach, der die theoretische Schulung seiner Spieler zum wichtigen Bestandteil seines Trainings machte. Brown nutzte als erster Trainer die vorhandenen technischen Möglichkeiten und setzte den Film zum Studium der Gegner sowie der eigenen Mannschaft ein. Er war es auch, der die Spielzüge von der Seitenlinie aus bestimmte, in einer Zeit, in der die Quarterbacks generell noch selbst für die Auswahl der Spielzüge verantwortlich waren.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht schwer zu verstehen, weshalb Walsh oft die eingefahrenen Wege verließ und ständig mit neuen Ideen experimentierte. Ray Rhodes, damals Assistent unter Walsh und später unter anderem Head Coach der Eagles und der Packers, meinte dazu: "Es war aufregend für mich, jeden Tag zum Training zu gehen und zu sehen, was sich Bill wieder Neues hatte einfallen lassen." Dabei war es nicht so sehr das, was Walsh tat, sondern vielmehr die Art und Weise, wie er ein Problem anging und löste.

Eines dieser Probleme gab dann auch den Anstoß zur "West Coast Offense". Walsh war bei den Bengals als Coach für die Quarterbacks und die Receiver zuständig. Seine damalige Schwierigkeit bestand darin, nach dem verletzungsbedingten Karriereende des Quarterbacks Greg Cook mit dessen Nachfolger Virgil Carter über einen Quarterback mit nur durchschnittlicher Wurfkraft zu verfügen. Lange Pässe über 30 Yards oder mehr waren damit ein hohes Risiko. Hinzu kam, dass die Offensive Line körperlich nicht so dominierend war, wie dies in der NFL für ein gutes Laufspiel nötig gewesen wäre. Aber Carter verfügte über eine sehr hohe Spielintelligenz, und seine Pässe waren auf kurze Distanz extrem akkurat. Welche Art des Angriffs sollte man nun wählen, um ein Spiel zu kontrollieren?

Die Wahl fiel auf ein "kurzes" Passspiel. Und das war die eigentliche Neuerung. Zu jener Zeit kontrollierte man das Spiel mit Laufspiel und überraschte den Gegner nur gelegentlich mit einem langen Pass. Walsh war nun der Meinung, man könne ein Match auch mittels Passspiel kontrollieren, mit dem gleichen oder noch größerem Erfolg als mit dem Laufspiel. Diese Ideen beschrieb er 1979 in den "Proceedings" der American Football Coaches Association. Die Wahl des Titels beschreibt sehr treffend seine Grundidee: "Controlling The Ball With The Passing Game".

Der größte Vorteil dabei ist, dass diese Offense auch ohne ein dominierendes Laufspiel auskommt. Dafür müssen die Running Backs aber in der Lage sein, eine sehr aktive Rolle im Passspiel einzunehmen. Gleichzeitig hat die "West Coast Offense" aber auch eine sehr starre Struktur und erfordert sehr disziplinierte Spieler, die sich in das vorgegebene Muster einfügen können. Oder wie Walsh es formulierte: "Die Spieler müssen disziplinierter ihre taktischen Vorgaben erfüllen als in jeder anderen Offense. Es gibt so gut wie keine individuellen Freiheiten."


Der Text stammt aus dem Buch "Erfolgreiche Offense" von Holger Korber - 228 Seiten - 24,90 Euro.

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