Der kleine Dachdecker

Wer Sanders’ Einstellung zu seiner Leistung und seinem Sport verstehen will, muss in die Tage zurückgehen, in denen der kleine Barry in seinen Sommerferien noch seinem Vater half, Dächer in seiner Geburtsstadt Wichita (Kansas) zu decken. Eigentlich müsste man sagen: helfen musste. In den heißen Monaten des Jahres, ohne Pause und vor allem ohne Schatten, auf den Dächern von Kansas zu stehen, ist sicherlich nicht jedermanns Sache. "Es war wie in einer Sauna", erinnert sich Sanders. "Aber schlimmer noch war, für meinen Vater zu arbeiten. Er konnte einen Schraubenzieher verlangen und, wenn man ihm dann einen brachte, in eine Schimpfkanonade ausbrechen: Ich wollte keinen Kreuz-, sondern einen Schlitzschraubenzieher!"

Widerstand war erstens auf Grund Barrys strenger Erziehung nicht angebracht und wäre zweitens sowieso aussichtslos gewesen. Der Vater war stets zu respektieren, seine Entscheidungen waren nicht zu hinterfragen. Eine Grundregel, die in der Sanders-Familie auf Grund der insgesamt elf Kinder durchaus auch ihre Berechtigung hatte. So lernte Barry Sanders schon früh, dass persönliche Interessen zurückzustellen sind, wenn dies von einem verlangt wird und es für das Wohl des Ganzen notwendig ist.

Da war Football der passende Sport. Schon sehr früh entdeckte der künftige NFL-Star seine Liebe zum Spiel mit dem eiförmigen Ball. "Ich habe einmal gehört, dass ein berühmter Mann gesagt hat: Der Mensch kann zwar machen, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will. Ich glaube fest daran, dass ich nicht Football gewählt habe, sondern Football mich. Von dem Moment an, als ich das erste Mal spielte, musste ich es immer wieder tun. Ich wollte nicht nur, ich musste einfach", so erklärte Sanders anlässlich seiner Aufnahme in die NFL-Ruhmeshalle seine umgehende Faszination für den Sport.

Die Begeisterung begann mit Straßen-Football. Gemeinsam mit seinem Bruder Byron traf sich Barry jeden Sonntag mit Kindern aus der Nachbarschaft, um zu spielen. Und weil ihre Mutter nur wegen Football den abendlichen Kirchgang nicht streichen wollte, spielten die beiden Sanders-Brüder eben auch in ihrer Sonntagskleidung. Für Barry war es sofort Liebe auf den ersten Ballkontakt. Nach den anfänglichen Spielen mit seinem älteren Bruder wollte er sich, kaum aus der Vorschule heraus, schon einem Team anschließen. Nur ein mahnendes "Du bist noch zu klein" seines Vaters verdonnerte Barry zu einer weiteren Geduldsprobe.

Als er neun Jahre alt war, erfüllte er sich seinen Wunsch schließlich auf eigene Faust. Die elterliche Erlaubnis, Football zu spielen, fehlte Barry noch immer, doch er ging einfach mit einem seiner älteren Freunde zum Training. "Als ich klein war, hatte ich schon Angst vor meinem Vater, aber bei dieser Aktion waren mir die Konsequenzen einfach egal. Ich wollte Football spielen, komme was wolle", sagte Sanders. Das mahnende "Du bist zu klein" sollte Sanders aber noch einige Zeit lang weiter begleiten. Denn genau wie sein Vater Jahre zuvor gestand auch sein späterer Trainer an der Wichita North High School, Bob Shepler, dem jungen Running Back zwar ein großes Talent zu, doch auch er bescheinigte ihm auf der anderen Seite, zu klein für seine Wunschposition zu sein. Die Lösung: Sanders wurde erst einmal zum Passverteidiger umgeschult.

Barrys große Stunde sollte schließlich erst in seinem letzten High-School-Jahr schlagen, als Shepler zurücktrat und Dale Burkholder das Feld überließ. Burkholder war ein Trainer, der neue Ideen an die Schule nach Wichita brachte und mit seinem Team Großes erreichen wollte. Er legte großen Wert auf die richtige Arbeitseinstellung, Schnelligkeit und Fitness. Ohne Unterlass bläute er seinen Schützlingen ein, dass nur das Ergebnis auf der Anzeigetafel wichtig sei und man nur mit klaren Zielvorstellungen den gewünschten Erfolg erreichen könne. Klar, dass ihm da bald Sanders ins Auge fiel, denn der war in dieser Beziehung schließlich mit seinem Trainer auf einer Wellenlänge. Im vierten Saisonspiel beschloss Burkholder schließlich, dem flinken Defensive Back eine Chance zu geben. Er sollte nun zeigen, was er in der Offensive zu leisten im Stande war.

Dale Burkholder hat wohl selten eine bessere Entscheidung getroffen. Sanders erlief 1.000 Yards in fünf Spielen und brachte sein Team damit an die Spitze der Liga. Kurz vor Saisonende war er nur 33 Yards davon entfernt, den Titel als bester Läufer zu holen, und dies obwohl er in drei Spielen weniger gestartet war als seine Konkurrenten. Er hätte die Auszeichnung wohl dennoch erreicht, wäre da nicht seine Einstellung zum Spiel gewesen, die ihn von kleinauf geprägt hatte. Bei seiner High-School-Mannschaft, den Redskins, fand er seine Meinung bestätigt, dass der persönliche Erfolg immer nachrangig sei. Daher konnte er selbst, als sich die Situation wie folgt darstellte, nicht aus seiner Haut: Sanders’ Mannschaft hatte eine 35:12-Führung im Rücken, als Coach Burkholder seinen neuen Star fragte, ob er noch einmal ins Spiel wolle, um sich den Titel als bester Läufer zu holen. Sanders lehnte, für die meisten überraschend, ab. Mit dem sicheren Sieg vor Augen, erschien ihm das anstehende Playoff-Spiel wichtiger als der persönliche Ruhm. Die größte Auszeichnung seiner High-School-Karriere sollte ohnehin noch auf ihn warten: Die Oklahoma State Cowboys boten Barry Sanders ein Sportstipendium an. Sie wollten ihn in ihrem Team haben. Und wichtiger noch: nicht als Defensive Back, sondern als Running Back.

Der Text stammt aus dem Buch "Die Superstars der NFL" - 196 Seiten - 19,90 Euro.

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