Comeback-Versuche
Auch in der Verteidigung liegen die taktischen Vorteile beim führenden Team, selbst wenn es da nicht die Kontrolle über die Spielzeit hat. Doch wenn der Gegner möglichst schnell Scores benötigt, liegt es im American Football nahe, sich darauf zu konzentrieren, eben dies zu verhindern: zum einen am besten alle Punkterfolge, vor allem aber schnelle Punkterfolge. Startet der Gegner seine Angriffsserie aus der eigenen Hälfte, kann man ihm in der Feldmitte durchaus das eine oder andere Yard bei kurzen Spielzügen schenken. Abschirmen muss man stattdessen verstärkt die tiefen Passzonen und bei Spielzügen, die in Richtung der Seitenauslinien gehen, alles daran setzen, den Ballträger daran zu hindern, ins Aus zu kommen.
Wenn die Angreifer keine Auszeiten nehmen (oder gar keine mehr haben), werden sie trotz aller Eile (und selbst bei eventuellem Verzicht auf kurze Vorbesprechung in einer "No Huddle Offense") doch stets ihre 15 bis 20 Sekunden für Aufstellung und Spielzug benötigen. Im "normalen" Spielverlauf bei unentschiedenem Spielstand wären beispielsweise sieben gewonnene Yards pro Spielzug höchst effizient und "todsichere" Vorbereitung für einen Touchdown. Hier würde dies im Rechenbeispiel nun um die drei Minuten Spielzeit kosten, um 70 Yards in zehn Spielzügen zu schaffen. Ehe man damit allein zum Touchdown kommt, ist es vielleicht schon zu spät.
Für eine zurückliegende Mannschaft wird es damit immer hektischer, vor allem wenn man bereits mehr als acht Punkte zurückliegt, der Maximalzahl an möglichen Punkten in einer Angriffsserie für einen Touchdown mit Two-Point-Conversion. Zu den selbst dabei verbrauchten Spielminuten kämen ja in der Regel noch einmal mindestens zwei hinzu, die danach die führende Mannschaft wieder in Ballbesitz wäre. In unserem 70-Yard-Beispiel würde es also (ohne Ballverluste und Auszeiten) etwa drei Minuten dauern, einen Score aufzuholen, allerdings bereits mindestens acht Spielminuten, um zwei Scores aufzuholen.
Diese recht grobe Faustregel wird dadurch aufgeweicht, dass gerade am Schluss Auszeiten ins Spiel kommen, und wenn als einer der aufzuholenden Scores ein Field Goal reicht, verkürzt sich die benötigte Zeit ebenfalls. Aber allzu lange darf ein zurückliegendes Team nicht darauf vertrauen, dass die Dinge sich schon irgendwie noch regeln lassen. Im Angriff kann man nicht ausschließlich die vom Gegner "verschenkten" Yards nehmen. Es muss irgendwann aktiv der Versuch kommen, mindestens häufiger an die Seitenlinie zu kommen. Und am besten natürlich ein Pass in oder dicht vor die Endzone, um die Sache zu beschleunigen. Da werden auch Receiver angespielt, selbst wenn sie gut abgeschirmt sind, das Risiko von Interceptions wird immer bewusster in Kauf genommen, je näher das Spielende rückt.
Letztlich hat jede Mannschaft auch gerade auf solche Strategien der "Two Minute Offense" hin trainiert und gewohnte Abläufe einstudiert, die ohne viel zusätzlich verbrauchte Spielzeit funktionieren. Man lässt dabei gegebenenfalls im Angriff auch den "Huddle" vor dem Spielzug weg, wenn, dann werden gleich mehrere Spielzüge im Voraus festgelegt. Oder immer der gleiche, etwa ein Passversuch über mindestens zehn Yards, der mal auf diesen, mal auf jenen Spieler probiert wird. Ist der Passversuch unvollständig, stoppt die Zeit. Gibt es ein First Down, stoppt sie zumindest so lange, bis der Ball durch die Schiedsrichter und an der Seitenlinie die "Down Marker" neu platziert wurden. Notfalls kann der Quarterback auch durch einen "Spike" die Zeit stoppen: Nach dem Snap pfeffert er den Ball einfach zu Boden, was als Passversuch gilt und zwar einen Versuch, aber nur wenige Sekunden kostet.
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Wie funktioniert American Football
Teil 1: Eigentlich ist alles einfach
Teil 2: Lauf- und Passspiel
Teil 3: Touchdowns, Field Goals und Safetys
Teil 4: Vier Downs für zehn Yards
Teil 5: Münzwurf mit Fallstricken
Teil 6: Mit dem Kickoff geht es los
Teil 7: Start der echten Action: der Kickoff Return
Teil 8: Fouls im American Football
Teil 9: 15 Yards Strafe für schwere Fouls
Teil 10: Das Holding
Teil 11: Die „technischen“ Fouls
Teil 12: Die korrekte Startformation im Angriff
Teil 13: „Free Plays“ der Offense nach Defense-Fouls
Teil 14: Linienspieler zuerst im Fokus
Teil 15: Die Offensive Linemen
Teil 16: Die Ends im Angriff
Teil 17: Die Backs der Offense
Teil 18: Grundaufstellungen der Verteidigung
Teil 19: Pass Rush
Teil 20: Mann- oder Zonendeckung gegen den Pass?
Teil 21: Einfluss der Feldposition auf die Taktik
Teil 22: Gefahr in der eigenen Red Zone
Teil 23: Alle Optionen im "Mittelfeld"
Teil 24: „Schattenboxen“ zu Beginn
Teil 25: Geduld und Strategie zählen
Teil 26: Der vierte Versuch
Teil 27: Mut zum Risiko?
Teil 28: Der Punt und andere Kicks
Teil 29: Die Macht über die Spielzeit
Teil 30: Comeback-Versuche
Teil 31: Hail Mary!
Teil 32: Die Auszeiten
Teil 33: Nur der Sieg zählt - notfalls nach Verlängerung
Teil 34: Die Mathematik der Football-Scores
Passfang an der Außenseite (© Kratky)