Mut zum Risiko?

Kurz vor der Goal Line? Warum nicht etwas riskieren?Ist der Ball vor einem vierten Versuch beim American Football bereits in der gegnerischen Hälfte, können wir etwas genauer hinsehen. Sind wir näher als 30 Yards an der Endzone, bräuchte unser Kicker weniger als etwa 47 Yards zum Field Goal zu kicken, und wenn wir ihm dies nicht zutrauen würden, wäre er normalerweise gar nicht im Kader. Wir machen in den Augen der meisten Fans jedenfalls nichts verkehrt, wenn wir uns hier erst einmal diese drei Punkte holen und danach den Gegner per Kickoff zum Start an etwa derselben Feldposition verdammen.

Beim Field Goal postiert der Kicker sich etwa sieben Yards hinter dem Anspielpunkt. Ein Mitspieler fängt den Ball und hält ihn mit der Fingerspitze "hochkant", bis kurz vor dem Schuss. Das Tor steht auf der Endlinie, also zehn Yards hinter der Goal Line. War die Anspielposition an der 30-Yard-Linie, muss der eigentliche Schuss also 47 Yards weit gehen und dann oberhalb der zehn Fuß (etwas mehr als drei Meter) hohen Querlatte zwischen den 18,5 Fuß (etwa 5,64 Meter) voneinander entfernten Torpfosten ankommen. Als grobe Faustregel gilt, dass dies einem geübten Kicker bis zu dieser Entfernung (also mit einer Anspielposition bis zu 30 Yards von der gegnerischen Endzone) regelmäßig gelingen sollte. Von weiter weg wird es schon schwieriger. Aber bei gutem Wind geht es in der NFL auch alle Jubeljahre mal aus 60+ Yards mit Anspielpositionen nahe der Mittellinie...

Stehen wir ganz dicht vor der gegnerischen Endzone, könnten wir aber in einer "Inches"-Situation auf einen ganz anderen Gedanken kommen. Anders als in der eigenen Hälfte ist unser Risiko nach einem hier verlorenen Angriffsrecht nicht besonders groß, der Gegner hätte anschließend ja 90 oder mehr Yards bis in unsere Endzone zu überbrücken. Das soll er erstmal schaffen, und wie wir wissen, startet er ja selbst dann aus einem für die Angreifer sehr ungemütlichen Bereich dicht vor der eigenen Endzone. Was wir hier verlieren, sind "nur" die (fast) sicheren drei Punkte des Field Goals. Im "Worst Case" hat unsere Defense anschließend immerhin die beste Ausgangslage, die für Verteidiger vorstellbar ist. Im Erfolgsfall kommen wir zu drei bis vier neuen Versuchen für einen Touchdown oder gar direkt zu den Punkten. Dazu käme ein psychologisch nicht unwichtiger Faktor: Wir hätten uns und dem Gegner den Beweis von Stärke geliefert, das Selbstbewusstsein unserer Akteure gesteigert und das der Gegner angekratzt. All diese Faktoren zusammen genommen sind in einem emotionsgeladenen Umfeld wie auf einem Footballplatz gar nicht zu unterschätzen. Hier also könnte es auch heißen: "They go for it on Fourth Down!"

Es bleibt ein schmaler Streifen auf dem Feld etwa um die 35-Yard-Linie des Gegners, in dem je nach Qualität unseres Kickers die Chancen auf die drei Punkte des Field Goals mehr oder weniger schnell schwinden. Aber auch der zusätzlich für unsere Defense zu gewinnende Sicherheitspuffer durch einen Punt ist da ja nicht besonders groß. Geht der Punt in die Endzone, wird er zum Touchback, die paar Yards machen den Kohl nicht fett. Ist unser Punter gut genug, den Ball dicht vor der Endzone ins Aus zu bringen, nageln wir den Gegner vor seiner Endzone fest, was eine höchst verlockende Option ist. Allerdings auch mit der Unwägbarkeit verknüpft, dass ein Returner den Ball womöglich fängt und doch wieder in die Nähe der 20-Yard-Linie oder gar weiter bringt - dann haben wir genauso wenig Vorteile wie beim Touchback. Dies kann zu der Überlegung führen, dass in solchen Situationen ein Pass Richtung Endzone ein vernünftiges Chance-Risiko-Profil bietet. Ein Erfolg bringt der Offense einen Touchdown oder zumindest die weitere Chance auf Punkte. Eine Interception hat in etwa dieselben Auswirkungen wie ein Punt mit oder ohne Return. Ein unvollständiger Pass wäre in dem Fall zwar ärgerlich, aber der Gegner hätte auch danach in etwa 60 bis 70 Yards auf dem Weg zum Touchdown vor sich.

Es gibt eine weitere Option - falls maximal fünf Yards zum First Down fehlen. Dann stellt das Team sich zum Punt (oder zum normalen Spielzug) auf und tut: gar nichts. Beziehungsweise rufen Punter oder Quarterback munter irgendwelche Startkommandos, aber niemand reagiert darauf. Jedenfalls niemand aus unseren Reihen, denn die Hoffnung ist, dass einer der Gegenspieler die Nerven verliert und als Reaktion auf den vermeintlichen Start des Spielzugs nach vorn kommt. In dem Moment würde der Center den Ball anspielen, der Gegner wäre "Offside", und wir bekämen die fünf Straf-Yards, die zum First Down reichen, egal, was sonst im Spielzug so passieren würde. Aber klar, die Verteidiger haben auch ihre TV-Western gesehen und wissen: Wer zuerst zieht, verliert... Meist also endet dieses Pokerspiel, indem die Schiedsrichter nach 40 Sekunden abpfeifen und uns fünf Yards Strafe wegen Spielverzögerung aufbrummen. Macht aber fast gar nichts, anschließend punten wir eben, und bei rund 40 Yards, um die wir die Anspielstation für den Gegner damit normalerweise weiter nach hinten verlegen, fällt dies kaum ins Gewicht. Um die Mittellinie herum kann es sogar eher vorteilhaft für unseren Punter sein, von etwas weiter hinten zu schießen, um eher exakter seine "Zielzone" der letzten 20 Yards im Feld anvisieren zu können.

Hin und wieder klappt auch ein "Punt Fake". Der Punter bekommt den Ball wie zu einem Punt, passt stattdessen aber auf einen der an den Enden der Linie startenden und sich lösenden Spieler oder läuft auch selbst. Beide Varianten sind recht risikoreich, das Überraschungsmoment ist das A und O. Das geht also nur, wenn die Blocker inklusive der an den Enden der Linie stehenden berechtigten Passempfänger (und natürlich der Punter selbst) auch tatsächlich die Spieler sind, die der Gegner aus der normalen Punt-Aufstellung des Teams kennt. Die Beteiligten müssen das Talent für Lauf, Pass oder Fang mitbringen, einen speziellen Spieler einzuwechseln, verrät das Manöver wahrscheinlich.

So unspektakulär es ist - in den meisten Fällen wird tatsächlich entweder das Field Goal probiert oder ganz profan gepuntet.

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Ist Football kompliziert?

Teil 1: Eigentlich ist alles einfach

Teil 2: Lauf- und Passspiel

Teil 3: Touchdowns, Field Goals und Safetys

Teil 4: Vier Downs für zehn Yards

Teil 5: Münzwurf mit Fallstricken

Teil 6: Mit dem Kickoff geht es los

Teil 7: Start der echten Action: der Kickoff Return

Teil 8: Fouls im American Football

Teil 9: 15 Yards Strafe für schwere Fouls

Teil 10: Das Holding

Teil 11: Die „technischen“ Fouls

Teil 12: Die korrekte Startformation im Angriff

Teil 13: „Free Plays“ der Offense nach Defense-Fouls

Teil 14: Linienspieler zuerst im Fokus

Teil 15: Die Offensive Linemen

Teil 16: Die Ends im Angriff

Teil 17: Die Backs der Offense

Teil 18: Grundaufstellungen der Verteidigung

Teil 19: Pass Rush

Teil 20: Mann- oder Zonendeckung gegen den Pass?

Teil 21: Einfluss der Feldposition auf die Taktik

Teil 22: Gefahr in der eigenen Red Zone

Teil 23: Alle Optionen im "Mittelfeld"

Teil 24: „Schattenboxen“ zu Beginn

Teil 25: Geduld und Strategie zählen

Teil 26: Der vierte Versuch

Teil 27: Mut zum Risiko?

Teil 28: Der Punt und andere Kicks

Teil 29: Die Macht über die Spielzeit

Teil 30: Comeback-Versuche

Teil 31: Hail Mary!

Teil 32: Die Auszeiten

Teil 33: Nur der Sieg zählt - notfalls nach Verlängerung

Teil 34: Die Mathematik der Football-Scores

Kurz vor der Goal Line? Warum nicht etwas riskieren?

Kurz vor der Goal Line? Warum nicht etwas riskieren? (© Zelter)

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