Geduld und Strategie zählen
Sofort mit dem ersten Spielzug schlägt beim American Football die Stunde der Strategen außerhalb und am besten mit einer guten Vogelperspektive oberhalb des Spielfeldes. Jetzt und besonders in der Halbzeitpause kommt es darauf an, den eigenen Spielern diese Erkenntnisse aus dem Überblick über die Formationen und Laufwege nahe zu bringen. Nicht umsonst sind normalerweise in Football-Stadien anders als bei anderen Sportarten die Karten oben auf der Tribüne teurer als die nahe am Feld. Der gleiche Effekt sorgt auch für die besondere "Telegenität" der Sportart, der Überblick von oben (plus die Zeitlupen der Wiederholungen) ist das A und O, das Spiel taktisch verfolgen zu können. Die zusätzlichen Nahaufnahmen vervollständigen dann ein perfektes TV-Erlebnis.
Sobald die ersten Schwachstellen beim Gegner erkannt werden, geht es darum, diese auszunutzen. Das Spiel "öffnet" sich, in immer schnellerem Wechsel variiert der Angriff seine Spielzüge, die Verteidiger kommen ins Schwitzen - aber auch die Gefahr für Ungenauigkeiten und Fehler in der Offense steigt.
Im Schnitt braucht die Offense etwas mehr als drei Yards pro Spielzug, um spätestens mit dem dritten Versuch die notwendigen zehn Yards zu schaffen, um in Ballbesitz zu bleiben. Üblicherweise werden beide Offenses in ihren frühen Angriffsserien sich erst einmal an diesem konservativen Standard orientieren. Besser, es geht in Trippelschritten vorwärts als zu schnell wieder zurück in die Teamzone. Und je länger man dies durchhält, sich mit den kurzen, gerade einmal so reichenden Spielzügen von First Down zu First Down zu hangeln, desto stärker wird die Verteidigung gezwungen, dies zu stoppen. Es verlangt meist eine besondere personelle Stärkung im Zentrum, und dies öffnet umso mehr ungeschützte Räume weiter hinten. Kein Wunder also, wenn nach einer "einlullenden" Serie kurzer Läufe plötzlich ein gelungener weiter Pass alle überrascht.
Zu Beginn - beim Spielstand von 0:0 oder zumindest keinem klaren Rückstand - liegt die Chance der Defense allerdings ebenfalls vor allem darin, sich in Geduld zu üben. Sie muss bei nur einer Serie der drei oder vier Versuche des Gegners zum First Down praktisch nur ein einziges Mal klar die Oberhand in einem Spielzug behalten. Denn dann wirft sie den Gegner meist so weit zurück, dass die konservative Strategie nicht mehr funktioniert. Dies bringt beste Chancen, dessen Serie beenden und ihre eigene Offense auf den Platz schicken zu können. Gelingt so etwas im dritten Down, ist es direkt so weit, doch auch davor hat solch ein Erfolg sofort Konsequenzen.
Denn auch die Kombination aus noch zur Verfügung stehenden Versuchen sowie die für ein neues First Down noch fehlenden Yards bestimmen die Ausgangslage für eine Offense und erhöhen oder limitieren deren Möglichkeiten. Nach einem Quarterback Sack oder einem bestraften Foul können es zehn oder gar 15 Yards mehr sein, die fehlen. Statt "1. und 10" heißt es dann vielleicht "2. und 20" oder "1. und 25" bei einer Strafe, bei der zumindest der Versuch in der Regel nicht verloren geht (außer zum Beispiel bei unsportlichen "Schummeleien" wie einem klar ins "Niemandsland" geworfenen Pass, mit dem nur Raumverlust vermieden werden sollte).
Statt 3,3 Yards sind dann mit den restlichen Versuchen für ein neues First Down im Schnitt acht, zehn oder noch mehr Yards zu holen. Da muss die Offense üblicherweise auf den Pass setzen und ins Risiko gehen. Natürlich liegt die Idee nahe, gerade wegen dieser Erwartungshaltung nun erst recht zu laufen, und das wird ab und an auch probiert. Doch selbst wenn das Überraschungsmoment den "Standard"-Lauf von etwa drei, vier Yards auf das Doppelte verlängern sollte - es ist meist nicht genug. Die Offense muss ins Risiko gehen, und das nächste First Down ist nicht mehr "planbar".
Die Verteidiger müssen dagegen weniger Risiko auf sich nehmen. Die hinteren Passverteidiger können sich auf die Angreifer konzentrieren, die tatsächlich bereits vor dem Fang drohen, in die Nähe eines First Downs zu kommen. In der Zone davor liegt alle Konzentration darauf, den Receivern zumindest nach dem Fang kein Yard extra zu gönnen - und am besten natürlich den Ball wegzuschlagen oder den potenziellen Fänger so zu verunsichern, dass es gar nicht erst zum Fang kommt. Und die ein, zwei für die Laufverteidigung eingesparten Akteure kann man zudem ja explizit auf Quarterback-Jagd ins Backfield schicken - es ist gar nicht so selten, dass auf einen Quarterback Sack gleich der nächste folgt.
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Wie funktioniert American Football
Teil 1: Eigentlich ist alles einfach
Teil 2: Lauf- und Passspiel
Teil 3: Touchdowns, Field Goals und Safetys
Teil 4: Vier Downs für zehn Yards
Teil 5: Münzwurf mit Fallstricken
Teil 6: Mit dem Kickoff geht es los
Teil 7: Start der echten Action: der Kickoff Return
Teil 8: Fouls im American Football
Teil 9: 15 Yards Strafe für schwere Fouls
Teil 10: Das Holding
Teil 11: Die „technischen“ Fouls
Teil 12: Die korrekte Startformation im Angriff
Teil 13: „Free Plays“ der Offense nach Defense-Fouls
Teil 14: Linienspieler zuerst im Fokus
Teil 15: Die Offensive Linemen
Teil 16: Die Ends im Angriff
Teil 17: Die Backs der Offense
Teil 18: Grundaufstellungen der Verteidigung
Teil 19: Pass Rush
Teil 20: Mann- oder Zonendeckung gegen den Pass?
Teil 21: Einfluss der Feldposition auf die Taktik
Teil 22: Gefahr in der eigenen Red Zone
Teil 23: Alle Optionen im "Mittelfeld"
Teil 24: „Schattenboxen“ zu Beginn
Teil 25: Geduld und Strategie zählen
Teil 26: Der vierte Versuch
Teil 27: Mut zum Risiko?
Teil 28: Der Punt und andere Kicks
Teil 29: Die Macht über die Spielzeit
Teil 30: Comeback-Versuche
Teil 31: Hail Mary!
Teil 32: Die Auszeiten
Teil 33: Nur der Sieg zählt - notfalls nach Verlängerung
Teil 34: Die Mathematik der Football-Scores
Was auf der Tafel steht, soll geheim bleiben und dann auf dem Feld im rechten Moment umgesetzt werden. (© Marcus Hirnschal)