Manchmal ist bei einem wegen eines scheinbaren "False Starts" abgebrochenen Spielzug nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheint, und so haben die Fans der Offense in solchen Fällen immer die leise Hoffnung, dass die folgende Beratung der Schiedsrichter etwas anderes ergibt: Dass nämlich vor der Bewegung des Angreifers ein Verteidiger sich vorwärts bewegt, einen Gegenspieler berührt und der Offensive Lineman nur darauf reagiert hat. Dann hätten wir nämlich ein "Encroachment" der Defense, und es ginge fünf Yards in die andere Richtung zugunsten der Angreifer.
Wichtig hierbei ist aber die Berührung, ansonsten darf ein Verteidiger sich nicht nur auf seiner Seite des Balles beliebig bewegen. Er darf tatsächlich auch munter die gedachte Anspiellinie überschreiten, wenn er keinen Gegner berührt. Er darf dort allerdings nicht sein, während der Ball angespielt wird, dann ist er "offside". Und deswegen deuten Abwehrspieler in der Praxis solche Manöver auch nur an (zum Beispiel, um einen Gegner zum "False Start" zu verleiten).
Denn im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Center einfach genau in dem Moment, in dem ein Verteidiger über die Linie geraten ist, den Ball anspielen sollte. Die gelbe Flagge fliegt dann neben ihm, und für die Angriffsmannschaft startet ein Spielzug ohne jedes Risiko. Klar, der Quarterback muss den unvermittelt angespielten Ball erst einmal zu fassen bekommen - er kann aber ohne Rücksicht auf Verluste jedes Risiko eingehen. Kein Fumble, keine Interception würde zählen, wohl aber der erspielte Raumgewinn. Und wenn der geringer als fünf Yards wäre, kann man immer noch verlangen, den Gegner mit diesen fünf Yards zu bestrafen.
Theoretisch gilt dies in der Form für alle Spielzüge, bei denen ein Foul begangen wird. Allerdings ist es selten für alle Akteure so schnell und einfach im laufenden Spielgeschehen ersichtlich, wer welches Foul begangen hat. Eine gefoulte Mannschaft jedenfalls hat dank der Vorteilsregel im weiteren Verlauf kein Risiko mehr. Holt sie als Offense wesentlich mehr Yards, als die Strafe ausmachen würde, lehnt sie einfach die Strafe ab und lässt den Spielzug ganz normal werten. Hat sie als Verteidigung den Ballträger weit zurück geworfen, kann sie genauso verfahren. In den allermeisten Fällen liegt die sinnvolle Lösung klar auf der Hand. In der Praxis schlagen gleich die Schiedsrichter dem Kapitän der gefoulten Mannschaft die offensichtlich nahe liegende Lösung vor, und der muss diese bloß abnicken.
Meist sind die Straf-Yards wertvoller als der gespielte Spielzug, aber es gibt auch andere Fälle, bei denen genauer überlegt werden muss. Dies hängt damit zusammen, dass ein Spielzug mit Foul nicht als einer der vier Versuche angerechnet wird. Daraus folgt, dass für den Angriff fast immer die Straf-Yards vorteilhafter sind, weil ja zusätzlich der Versuch auch noch wiederholt werden darf. Was anderes ist natürlich, wenn man das neue First Down erzielt hat, aber die Strafe dafür nicht ausreichen würde. Bei einem Touchdown übrigens verfällt die Strafe nicht, sondern wird dem Gegner vor dem folgenden Kickoff zusätzlich aufgebrummt. Wer aber mit Football-Fans eine schöne philosophische Diskussion starten will, kann ja mal fragen, was man am besten tut, wenn man ein Field Goal erzielt hat, durch ein Foul des Gegners dabei aber bei Verzicht auf die drei Punkte auch das Anrecht auf vier neue Versuche und die Hoffnung auf den Touchdown hätte...
Für die Verteidiger gibt es solche "Gretchenfragen" häufiger. Hat der Gegner im dritten Versuch trotz Foul kein neues First Down geschafft und ist weit entfernt davon, ist es zum Beispiel angeraten, ihn in den vierten Versuch gehen zu lassen, statt ihm - wenn auch von weiter hinten - eine Wiederholung zu gestatten. Hat man ihn schon in einem ersten Versuch zurückgeworfen, kann auch bei einem zweiten Versuch die Ablehnung der Strafe schon höchst sinnvoll sein. Einen dritten Versuch zu erzwingen, bei dem auf einen Schlag zum Beispiel 20 Yards zu holen wären, ist nicht nur mathematisch die bessere Option, als den Gegner insgesamt 25 Yards mit zweitem und drittem Versuch holen zu lassen. 20 Yards sind in einem Spielzug mit einem geplanten Lauf ohne einen kapitalen Abwehrfehler kaum möglich - man könnte sich also ziemlich sicher auf einen Pass des Gegners einstellen.
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Wie funktioniert American Football
Teil 1: Eigentlich ist alles einfach
Teil 2: Lauf- und Passspiel
Teil 3: Touchdowns, Field Goals und Safetys
Teil 4: Vier Downs für zehn Yards
Teil 5: Münzwurf mit Fallstricken
Teil 6: Mit dem Kickoff geht es los
Teil 7: Start der echten Action: der Kickoff Return
Teil 8: Fouls im American Football
Teil 9: 15 Yards Strafe für schwere Fouls
Teil 10: Das Holding
Teil 11: Die „technischen“ Fouls
Teil 12: Die korrekte Startformation im Angriff
Teil 13: „Free Plays“ der Offense nach Defense-Fouls
Teil 14: Linienspieler zuerst im Fokus
Teil 15: Die Offensive Linemen
Teil 16: Die Ends im Angriff
Teil 17: Die Backs der Offense
Teil 18: Grundaufstellungen der Verteidigung
Teil 19: Pass Rush
Teil 20: Mann- oder Zonendeckung gegen den Pass?
Teil 21: Einfluss der Feldposition auf die Taktik
Teil 22: Gefahr in der eigenen Red Zone
Teil 23: Alle Optionen im "Mittelfeld"
Teil 24: „Schattenboxen“ zu Beginn
Teil 25: Geduld und Strategie zählen
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Teil 33: Nur der Sieg zählt - notfalls nach Verlängerung
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Die Flagge ist schon geworfen, der Spielzug läuft aber. (© Klostermann)