Geburtsstunde des American Football
Die Regeln der Football Association aus der britischen Metropole London, zu jener Zeit faktisch die Hauptstadt der Welt, dürften auf dem einen oder anderen Schiff in die USA gesegelt sein, höchstwahrscheinlich lagen sie auch in New Jersey vor. Am 6. November 1869 kamen dort in Brunswick Mannschaften des Colleges of New Jersey und des Rutgers College zusammen, um das erste Spiel der Sportart American Football auszutragen. So lautet die Lesart jedenfalls in der Rückschau, die die Entstehung der Disziplin auf dieses Match datiert.
Die Rutgers Queensmen schlugen die Tigers des Colleges of New Jersey, aus dem 27 Jahre später die Princeton University hervorging, mit 6:4. Die 50 Spieler - 25 auf jeder Seite - und die nur wenig zahlreicheren Zuschauer am Rande des Feldes gingen allerdings davon aus, dass hier "Fußball" gespielt wurde und nicht nur ein Spiel, sondern eine Serie von zehn "Games". Da sie allesamt englischsprachig waren, fiel beides vorerst nicht auf oder ins Gewicht, "Football" heißt halt "Football" und wird in den USA immer weiter so heißen.
Während in anderen Teilen der Welt die US-amerikanische Bedeutung des Begriffes erst durch einen Zusatz zum vom Fußball abgegrenzten "American Football" wird, lief es in den USA andersherum. Dort wurde der europäische Fußball später mit dem Zusatz "Association Football" identifiziert, was der lockere Amerikaner dann bald im Alltagssprachgebrauch in ein prägnantes "Soccer" verkürzte. Und dass Games als Serie ein Gesamt-Match ergeben können, kannte der geneigte Engländer oder Ex-Engländer in den Neuengland-Staaten ja so ähnlich vom Tennis.
Es ging den 50 Akteuren sowieso nicht darum, eine sportliche Weltrevolution auszulösen, es ging um Spaß an der Sache, um den Wettstreit zwischen Studenten rivalisierender Universitäten und natürlich auch um ein wenig Zeitvertreib an einem Samstagnachmittag. Auch dass die Spieler von Rutgers, die die Pflicht traf, sich irgendwie deutlich sichtbar zu den Gegenspielern abzugrenzen, um die Mannschaftszugehörigkeiten auf dem Feld feststellen zu können, sich scharlachrote Tücher um die Köpfe wickelten (und farblich passende Einstecktücher zum Sonntagsanzug wählten, "Style" ist immer wichtig!), damit Teamfarben und Teamnamen der späteren Rutgers Scarlet Knights festlegen, ahnten sie nicht.
Sicher waren sich alle nur, dass sie hier Football (im Sinne des späteren "Soccer") spielten. Mit den besten Vorsätzen, die neue britische Spielweise umzusetzen, hatten die Vertreter von Rutgers ihre Regeln für dieses Spiel gegen New Jersey und kommende Spiele fixiert. Als Taktik diente auf dem 120 mal 75 Yards großen Feld eine simple 11-12-2-Formation. Elf Verteidiger bildeten eine stets in der eigenen Hälfte verbleibende Abwehrkette, die den kleinen personellen Nachteil gegenüber den zwölf heranstürmenden offensiven Mittelfeldspielern normalerweise kompensieren sollte. Die zwei tiefen Spitzen lauerten dafür jederzeit vor dem gegnerischen Tor, dort wo sie im späteren Fußball deutlich "abseits" gewesen wären. Die Hoffnung war, dass ihnen irgendwie einmal ein Ball so vor die Füße prallen würde, dass ein einfaches "Goal" möglich wäre.
Jedes solche Goal beendete ein "Game". Gespielt wurde "Best of Ten", mit dem 6:4 durch Rutgers war die Partie daher entschieden, obwohl New Jersey zwischenzeitlich immer wieder Rutgers-Führungen ausgleichen konnte. Zu Beginn hatten die Spieler mit den scharlachroten Tüchern dank zuvor abgesprochener Taktik wenig Mühe, das Spiel zu dominieren. Mit einem "flying wedge", dem "fliegenden Keil", schirmten elf Angreifer den ballführenden Spieler hinter sich erfolgreich ab, um wieder und wieder in Richtung gegnerisches Tor vorzustoßen. Allerdings waren die Gäste körperlich kräftiger aufgestellt und lernfähig: Nach dem 0:2-Rückstand stellten sie einerseits selbst erfolgreich auf diese Taktik um und nutzten ihre Physis andererseits, um den gegnerischen Keil zu durchbrechen.
Rutgers wiederum konterte mit der unglaublichen Fähigkeit seines Spielers Madison M. Ball, der mit Hackentricks immer wieder den Ball in höchster Not aus der eigenen Hälfte klären konnte. Am Ende entschied ein weiterer Strategiewechsel von Rutgers, als die müder werdenden und größer gewachsenen New-Jersey-Verteidiger mit konsequentem Flachpassspiel immer wieder überspielt wurden.
Zufrieden waren am Ende alle, dass sie angeblich eine neue Sportart erfunden hatten, wussten sie selbst aber nicht. Weil es aber Spaß gemacht hatte, traf man sich künftig öfter, schon eine Woche später gewann New Jersey auf seinem Campus die Best-of-15-Revanche glatt mit 8:0. Auch an anderen Universitäten begann das Treiben sich in den Jahren danach wieder zu etablieren. In Harvard und Yale begrüßte man diese weniger brutale Variante eines Football-Spiels und genehmigte den Studenten deren Ausübung.
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Wie American Football entstanden ist - die Geschichte
Teil 1: Die Elf steht
Teil 2: Antike Gladiatoren
Teil 3: Calcio und Cuju
Teil 4: Die britisch-barbarische Variante
Teil 5: Studentische Kicks
Teil 6: Abgrenzung zum Rugby
Teil 7: Das Boston Game
Teil 8: Geburtsstunde des American Football
Teil 9: Erste Regelwerke für US-Universitäts-Teams
Teil 10: Walter Camp denkt nach
Teil 11: Die Unterschiede zu Rugby und Fußball
Teil 12: Wie viele Punkte für was?
Teil 13: Gewaltexzesse und Beinahe-Verbot
Teil 14: Siegeszug in den USA
Original-Erde vom Ort des ersten American-Football-Spiels Rutgers vs. Princeton, (© College Football Hall of Fame)