Das Boston Game
Zur Zeit der sportlichen "Rugby-Revolution" in England waren die USA im Bürgerkrieg um die Abschaffung der Sklaverei. Trotz der Verbote von Harvard und Yale gab es einige Lehrer, vor allem an den studiumsvorbereitenden Preparatory Schools der US-Ostküste, die das Spiel Football aus ihrer Studentenzeit kannten. Einige vermittelten die Idee dieser rauen Sportart weiter ihren Schülern. In New England war man zwar stolz auf die Unabhängigkeit, doch kulturell schielte man immer noch nach "Old England". Gut möglich, dass die Regeln aus Cambridge einigen bekannt waren. Die Schuljungen im Boston Common, der ersten öffentlichen städtischen Parkanlage der Welt, spielten ihren Football allerdings so, wie es ihnen passte. Es wurde gekickt und mit dem Ball gelaufen.
1862 wurde als erste Organisationsform für dieses "Boston Game" der "Oneida Football Club" gegründet. Der Club bestand bis 1865. In der gesamten Zeit war er angeblich in allen Partien gegen Bostoner "Auswahlmannschaften" ohne Gegentore geblieben. Dies war weniger verwunderlich, als es scheint: Während Oneida F.C. ein festes Team hatte, das gemeinsam trainierte, war "Auswahlmannschaften" zum Teil eine freundliche Umschreibung dafür, dass die "Herren des Bolzplatzes" an Wochenenden vor allem Anfänger herausforderten, gegen sie anzutreten, statt zuzuschauen.
Spannende Frage: Was für einen Ball nutzte wohl dieser Oneida Football Club, wenn doch das Schießen und Dribbeln mit Ball am Fuß zu jener Zeit spielbestimmend gewesen sein müsste? 60 Jahre nach Auflösung ihres Clubs trafen sich 1925 noch lebende ehemalige Mitglieder und ließen ein Denkmal im Boston Common Park aufstellen. Die Inschrift lautete: "On this field the Oneida Football Club of Boston, the first organized football club in the United States, played against all comers from 1862 to 1865. The Oneida goalline was never crossed.” Im Original war auf dem Gedenkstein über der Inschrift ein ovaler Ball zu sehen. Zur Fußball-WM 1996 in den USA wurde der Gedenkstein restauriert - und bei dieser Gelegenheit der ovale durch einen runden Fußball ersetzt.
Wer jetzt die FIFA in Verdacht hat, hier Geschichtsklitterung betrieben zu haben, muss bedenken: Ja, es ist schon merkwürdig, dass der Original-Gedenkstein im Rahmen einer Restaurierung verfälscht wurde. Die vor der Heim-WM in den USA geschürte Begeisterung half, damit durchzukommen. Doch wie war die Ausgangslage der Oneida-Veteranen 1925 gewesen? Im Grunde genau dieselbe, nur andersherum: 1925 hatte eine erste Football-Begeisterung die USA erfasst. Einen ovalen Ball auf den Gedenkstein meißeln zu lassen und sich selbst "nachträglich" zu Erfindern des American Footballs aufzuspielen, war also vielleicht im Original schon die eigentliche Fälschung?
Kleiner Tipp am Rande: In London jedenfalls war der erste ovale Rugby-Ball erst im Jahr 1870 hergestellt worden... Es wäre höchst ungewöhnlich, wenn das kleine Boston damals das große London inspiriert haben sollte. Zu jener Zeit war England unzweifelhaft der Trendsetter, und dort wurde definitiv zu der Zeit mit runden Bällen gespielt, egal ob Fußball oder Rugby.
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Historie von American Football
Teil 1: Die Elf steht
Teil 2: Antike Gladiatoren
Teil 3: Calcio und Cuju
Teil 4: Die britisch-barbarische Variante
Teil 5: Studentische Kicks
Teil 6: Abgrenzung zum Rugby
Teil 7: Das Boston Game
Teil 8: Geburtsstunde des American Football
Teil 9: Erste Regelwerke für US-Universitäts-Teams
Teil 10: Walter Camp denkt nach
Teil 11: Die Unterschiede zu Rugby und Fußball
Teil 12: Wie viele Punkte für was?
Teil 13: Gewaltexzesse und Beinahe-Verbot
Teil 14: Siegeszug in den USA
Wurde in Boston früh American Football gespielt? (© www.visitboston.com)