Der Jugend eine Chance
47,3 Prozent: Fast die Hälfte aller dritten Versuche verwerteten die Gegner der Arizona Cardinals 2023 zu neuen First Downs. Keine andere Defense der Liga scheiterte so oft daran, den Gegner zu Punts oder ins Risiko eines vierten Versuchs zu zwingen. 13 Niederlagen, die Mehrzahl davon deutlich, waren das Resultat. Nur die Washington Commanders kassierten noch mehr Gegenpunkte. In der eigenen starken Division gelang den Cardinals gegen die drei Konkurrenten kein einziger Sieg.
Die Konkurrenz in der Division bleibt stark, auch Head Coach Jonathan Gannon, der das Team aus dem Wüstenstaat letztes Jahr übernommen hatte, darf bleiben. Als Anwärter auf die Playoffs sind die Cardinals schon deswegen nicht im Gespräch, weil NFC Champion San Francisco und auch Seattle als Super-Bowl-Mitfavoriten in der gleichen Gruppe spielen. Einzig die im letzten Jahr positiv überraschenden Los Angeles Rams gelten bei einem möglichen Leistungsabfall als das Team, dem Arizona Rang drei streitig machen könnte.
Während der letzten Saison war Quarterback Kyler Murray nach langer Pause nach dem Kreuzbandriss im rechten Knie vom Dezember 2022 aufs Feld zurückgekehrt. Er gilt unbestritten als der Franchise Quarterback für die Cardinals, seinen Vertreter der ersten Saisonhälfte Joshua Dobbs haben die Cardinals entlassen und stattdessen Desmond Ridder als Ersatzmann aus Atlanta losgeeist.
Großer Hoffnungsträger ist nun der an vierter Stelle gedraftete Marvin Harrison Jr.., der einer der am meisten gehypeten Rookies der jüngeren NFL-Geschichte ist. Selbst Sohn einer Legende, des Hall of Famers Marvin Harrison, soll er in Arizona in die Fußstapfen von Club-Legende Larry Fitzgerald, dessen zwischenzeitlichem Nachfolger DeAndre Hopkins und dem danach eher enttäuschenden und Arizona nun verlassenden Marquise Brown treten. Die Erwartungen sind himmelhoch, die Kombination aus Größe, Geschwindigkeit und Lauffähigkeiten machte Harrison im College Football zu einem Albtraum für Verteidiger.
In einem Jahr, in dem nicht so viele Teams dringend einen Quarterback benötigten, hätte er auch Top-Draft-Pick der Liga werden können. Ein großes Glück für die Cardinals - Harrison dürfte auf Anhieb das beliebteste Ziel für Kyler Murray werden. Zum Pech für die Cardinals ist Football aber nicht nur Fangeball, können sich der Quarterback und sein Receiver nicht nur locker wie am Strand Bälle möglichst weit zuwerfen.
Außer den Schwächen in der Defense lag in Arizona zuletzt da zwischen Quarterback und gewünschter Anspielstation einiges im Argen. Der langjährige Left Tackle D.J. Humphries wurde nun nach seinem Kreuzbandriss entlassen. Immerhin hatten die Cardinals aber schon letztes Jahr den Sprössling eines anderen ehemaligen NFL-Spielers geholt: Paris Johnson Jr.. Dessen Vater spielte nur kurz für die Cardinals, später auch in Deutschland für Rhein Fire - sein Sohn könnte perspektivisch aber in Glendale groß herauskommen.
Letzte Saison stand er bei allen Spielzügen der Offense auf dem Platz, meist als Right Tackle, aber zunehmend auch in anderen Rollen. Noch ein wenig mehr Erfahrung und keine Verletzungen - ihm könnte der wichtigste Posten als Left Tackle anvertraut werden. Neu im Aufgebot für 2024 wird Jonah Williams sein, ein Mann mit Erfahrung als Left und Right Tackle. Er spielte zuvor für die Cincinnati Bengals, und mit dem Tandem aus ihm und Johnson Jr. im zweiten Jahr besteht begründete Hoffnung, dass die Angriffslinie Arizonas stärker wird.
Williams ist einer der fünf teuersten Neuverpflichtungen der Cardinals für 2024. Der Club hat einen relativ jungen und daher preiswerten Kader, was selbst Anfang August noch rund 30 Millionen Etat für Last-Minute-Einkäufe übrig ließ. Williams hat mit den anderen vier Top-Neuzugängen aus der Free Agency gemein, dass diese mit je sechs oder sieben Jahren Profi-Erfahrung ein bisher etwas unterrepräsentiertes Element im Kader stärken. Anders als Williams spielen die übrigen vier aber auf der anderen Seite des Balles.
Dort ist jede Verstärkung auch bitter nötig. Der vielseitige Pass Rusher Justin Jones kommt von den Los Angeles Chargers. In Kombination mit dem vor allem gegen den Lauf starken Bilal Nichols (vorher in Chicago) und Linebacker Mack Wilson, der zuvor in Cleveland und New England spielte und immer für einen Blitz auf den Quarterback gut ist, könnten und müssen mehr als 33 Quarterback Sacks drin sein - nur Washington und Carolina hatten 2023 in der NFL noch weniger Erfolg im Pass Rush.
Außerdem hatten die Cardinals ja außer dem viel beachteten Marvin Harrison Jr. in der ersten Draft-Runde noch einen weiteren Mann für die Zukunft holen können: Defensive End Darius Robinson wird hohes Potenzial zugestanden. In einem verbesserten Umfeld mag der Rookie nicht auf Anhieb in der Startformation gesetzt sein. Für die kommenden Jahre kann es aber Vorteile haben, wenn er nach und nach in der Rotation immer mehr Aufgaben übernehmen und dazulernen kann. Das Defensive Backfield wird in ähnlicher Manier aufgepolstert, allerdings durch einen erfahrenen Cornerback: Sean Bunting, der aus Tampa Bay kam, wird zeigen müssen, ob er noch ein paar Jahre in der NFL vor sich hat.
Obwohl die Cardinals einige Änderungen vorgenommen haben und auf dem rechten Weg scheinen, obwohl der Hype um Marvin Harrison Jr. sich bestätigen könnte: Geduld wird bei den Fans gefragt sein. Die Buchmacher zählen die Cardinals im Allgemeinen zu den Teams mit den geringsten Chancen, die Playoffs zu erreichen. Immerhin: Auch den Rams aus der gleichen Gruppe werden ähnlich geringe Chancen eingeräumt, obwohl es für diese letztes Jahr ja zu einem Kurzauftritt in der Endrunde reichte.
Die Argumente gegen einen kurzfristigen Umschwung sind vielfältig: Eine Offensive Line ist eben nicht automatisch so stark wie auf dem Papier. Positionsveränderungen oder Neuzugänge brauchen gerade hier immer ihre Zeit, bis das Zusammenspiel sich verbessert. Abgesehen vom allgemeinen Risiko, dass nach Verletzungen dieser Prozess immer wieder von vorn beginnen muss, hilft es den Cardinals auch nicht, dass in der Defense die Secondary weder überragend talentiert noch breit besetzt ist. Und die Special Teams der Cardinals waren ein konstanter Bereich der Sorge. Bei Kick Coverage und Returns ist viel Luft nach oben.
Mit Geduld könnte das Team reifen. Bei einem relativ jungen Kader hat man es in der Hand, die Zukunft zu gestalten. Jugend kann auch ein Vorteil sein: Generell hat die NFL in den letzten Jahren einen Trend zu jüngeren Kadern erlebt. Teams legen zunehmend Wert auf Athletik, Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit, was oft mit jüngeren Spielern einhergeht. Selbst Super-Bowl-Sieger Kansas City Chiefs hatte im Jahr 2023 eine immer noch relativ junge Startaufstellung mit einem Durchschnittsalter von etwa 26 Jahren.
Möglicherweise wird man in der Saison 2024 in Arizona gut daran tun, sich an den eigenen Fortschritten zu orientieren statt an den in der Tabelle vorn zu erwartenden 49ers oder Seahawks. Der Spielplan bietet eine Mischung aus Herausforderungen und Chancen. Zum Auftakt in Buffalo muss man sich sicherlich nicht unter Druck setzen lassen, drei Heimspiele im September geben Raum zur Entwicklung. Im Oktober aber kommt es knüppeldick mit Auswärtsspielen in San Francisco, Green Bay und Miami. Danach wird man wissen, ob man weiter für 2025 aufbauen muss oder überraschend doch um eine Wild Card kämpfen kann.
Auerbach - 02.08.2024
Kyler Murray bekommt mit Marvin Harrison Jr. eine Anspielstation, von der alle NFL-Quarterbacks träumen... (© Getty Images)
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