Ein außergewöhnlicher Free Agent

Er war DIE Story beim NFL Draft 2018 in Dallas: Linebacker Shaquem Griffin, damals gerade frisch vom College UCF (Central Florida), hatte eine der außergewöhnlichsten Geschichten zu bieten, die die NFL die letzten Jahre hervorbrachte: Aufgrund eines genetischen Defekts besitzt er nur eine, nämlich die rechte, Hand.

Ein Geburtsschaden namens "Amniotisches-Band-Syndrom" zwang die Eltern dazu, die linke Hand ihres Sohnes im Alter von vier Jahren amputieren zu lassen. Sein Unterarm endet seitdem in einem Stumpf, weswegen er mit einer dicken Bandage spielt. Trotzdem wurde der Linebacker unter anderem 2016 zum AAC Defensivspieler des Jahres an seinem College ernannt.

Vor der Combine wurde er – je nach Quelle des Scouting Reports – irgendwo zwischen der dritten und der sechsten Runde im damals anstehenden Draft verortet. Beim Combine zeigte er dann hervorragende Leistungen und vor allem sein Auftritt beim Bankdrücken sorgte für Erstaunen. Mit einer schwarzen Prothese an seiner linken Hand schaffte er 20 Wiederholungen (mit den üblichen 102 Kilo Gewicht) – gut für Platz 11 bei den Linebackern. Hier war schon deutlich zu hören, dass die Anfeuerungsrufe und die Begeisterung des (Fach-)Publikums das normale Ausmaß stark überschritten.

Richtiggehend sensationell war jedoch seine Zeit im 40 Yard Sprint: Bei 4,38 Sekunden blieben die Stoppuhren der Scouts stehen, was die schnellste Zeit eines Linebackers seit 2003 darstellte. Seitdem kamen Devin White von LSU (4,42 sek / aktueller Super Bowl Champion mit den Buccaneers) 2019 und Isaiah Simmons von Clemson (4,39 sek / Arizona Cardinals) nah an diese Zeit heran, aber waren jeweils einen Tick langsamer, so dass seine persönliche Bestmarke immer noch besteht.

Nachdem die NFL es absolut versteht, derartig außergewöhnliche Geschichten gekonnt in Szene zu setzen, musste man beim Draft auch nicht überrascht sein, als ein mit ihm als Hauptdarsteller gedrehtes Video vor der ersten Runde für Furore sorgte. Die Botschaft: "Es gibt keine Ausreden – Du kannst alles schaffen, wenn Du es willst. Sieh nur mich an!"

Es dauerte dann jedoch bis zur fünften Runde, bevor er gedraftet wurde, dafür war das Ergebnis umso besser: Die Seattle Seahawks sorgten mit Pick #141 für eine Wiedervereinigung mit seinem Bruder Shaquill, mit dem er zuvor auch schon bei UCF (und natürlich auf High School-Level vorher) zusammengespielt hatte.

Bei den Seahawks pendelte er in seinen drei Jahren zwischen aktivem Roster und Practice Squad. In drei Spielzeiten kam er auf 46 Spiele mit einem Sack und 25 Tackles in der Defense bei (nur) einem Start. Er überzeugte vor allem bei den Special Teams, wo er in den ersten beiden Jahren jeweils knapp die Hälfte der Snaps auf dem Feld stand. In der abgelaufenen Saison waren es aber auch hier nur noch 14 Prozent.

Auch der Vertrag von Bruder Shaquill Griffin war im Frühjahr ausgelaufen. Er unterschrieb in der Free Agency bei den Jacksonville Jaguars über drei Jahre und offiziell 40 Millionen Dollar, von denen insgesamt 29 Millionen garantiert sind. Zahlen, die sein bekannterer Bruder sicher nicht erreichen wird. Dessen letzter Vertrag in Seattle war mit 750.000 Dollar für ein Jahr dotiert.

Allerdings sollen laut NFL Networks Tom Pelissero gleich eine ganze Reihe Teams an Shaquem Griffin interessiert sein, die ihn als reinen Pass Rusher einsetzen möchten. Und selbst wenn er nicht mehr als das Minimum für einen Veteranen erhalten wird, so ist seine Karriere sicher jetzt schon länger, als man das vor dem Draft erwarten konnte.

Ein Vorbild ist er auch weiterhin – egal, wie sein nächster Vertrag aussehen wird.




Carsten Keller - 10.05.2021

Shaquem (links) und Shaquill Griffin bei ihrer Pressekonferenz zum Draft 2018 (© Carsten Keller)